Flucht und Vertreibung (Teil II)

 

von Ludger Hanke

 

Im Oktober 1945 kamen die ersten von den Briten organisierten Eisenbahntransporte mit Flüchtlingen und Vertriebenen im Münsterland an. Über 28.000 Menschen mussten in den Wintermonaten 1945/46 in kürzester Zeit versorgt und untergebracht werden. Den größten Zustrom an Vertriebenen erlebte das Münsterland Mitte 1946, wo weitere 92.000 Menschen,  25.500 mehr als angekündigt, zugeteilt wurden. Für unseren Landkreis Lüdinghausen sind im Verteilungsplan 10.000 Menschen zugewiesen worden. Sie alle kamen überwiegend aus den Gebieten Schlesien, Pommern, Ost und- Westpreußen, und dem Sudetenland sowie aus Stettin, Frankfurt a.d. Oder, Breslau, auch aus der Mark Brandenburg und Posen.

 

Alle kamen zunächst in Durchgangslager, wie z.B. nach Rheine, Warendorf und Ahlen, wo sie registriert und medizinisch versorgt wurden. Nach 1-2 Tagen ging es in die Kreisauffanglager Werne oder  nach Lüdinghausen. Von da erfolgte der Weg auf offenen Lkw- Ladeflächen nach Nordkirchen, Südkirchen und Capelle. In jedem Ort gab es in den Sälen der Gaststätten Westermann, Schulze auf dem Hofe und Mersch Sammelstellen.

Von hier erfolgten die Einweisungen in ihre Quartiere in Privatwohnungen im Dorf und auf den Höfen der Bauernschaften. Einige Bauern versuchten die Zuweisung zu steuern, in dem sie sich gezielt kräftige männliche Vertriebene zur Mitarbeit auf dem Hof aussuchten.  Wenig Chancen hatten da Alte und Kranke. Frauen mit Kindern, die noch zu beaufsichtigen waren und die in der Landwirtschaft nicht mit anpacken konnten, hatten bei so manchen Einheimischen einen schweren Stand.

Die Bürgermeister und ein Vertreter des Amtes, meist war es Franz Pieper, hatten immer wieder die unangenehme und schwierige Aufgabe, Quartiere für die Heimatlosen zu beschaffen, das war gewiss nicht immer einfach. Wer Wohnraum hatte, aber nicht bereit war, zu teilen, dem drohten hohe Strafen.

 

Bei einigen Familien lebten aber auch noch die Ausgebombten und Evakuierten aus den Städten des nahen Ruhrgebietes.

So mussten sie noch enger zusammenrücken. Oft war es so, dass nur ein Zimmer pro Familie zugeteilt werden konnte. Zum Glück war die Ernährung in unserer Gemeinde weitgehend sichergestellt. Trotzdem mussten manche Familien für Essen einen ganzen Tag auf den Bauernhöfen hart arbeiten. Bei manchen Bauernhäusern lies die räumliche Situation nicht mehr zu, weitere Familien unterzubringen. So kam es oft zu Härtefällen, zu Abweisungen und teilweise zu menschenunwürdigen Unterkünften.

 

Keller, Wirtschaftsräume, Ställe, Speicher und Heuböden wurden notdürftig zum Wohnen umfunktioniert. Viele mussten ohne Wasser, Heizung und Elektrizität auskommen. Die Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit führte bei der Bevölkerung anfangs zu Spannungen. Viele Geschichten zeugten von Beschimpfungen, Missgunst, Ablehnung, ja offenem Hass, der den Vertriebenen entgegengebracht wurde.

 

Ich brauche nicht zu erwähnen, dass es an allem fehlte: an Kleidung, Schuhen, Decken, Mobiliar und allen so kleinen Dingen, die man zu einem menschenwürdigen Leben so braucht. Dann kam noch dazu die Ungewissheit über den Verbleib ihrer restlichen Familienangehörigen sowie die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation. Etliche Menschen waren sehr mutlos und zweifelten an sich selbst.

Einige hatten es immer wieder am eigenen Leib erfahren, dass sie nicht unbedingt willkommen waren. Aber es war auch bei vielen ganz anders. Sie wurden gut aufgenommen und versorgt.

 

Infolge weiterer Ausweisungen im Jahr 1947/48 waren schon 150.000 Vertriebene und um 1950 über 175.000 im Münsterland registriert. In unserer Gemeinde Nordkirchen zählte man bis Oktober 1947 ca. 1500 Flüchtlinge und Vertriebene. Durch  Rückführung und Zusammenlegung von einigen Familien, die sich nach langem Suchen im Westen wieder gefunden hatten, gingen die Zahlen im August 1948 auf 1182 Männer, Frauen und Kinder zurück.

 

Im Hinblick auf die Eingliederung in die neue Heimat spielte die religiöse Zugehörigkeit der Vertriebenen eine wesentliche Rolle. Denn die Gemeinde Nordkirchen und der Kreis Lüdinghausen gehörten zu überwiegend katholischen Gegenden des Münsterlandes. Demzufolge waren 1939 von den Einwohnern des Kreises 69.881 katholisch und nur 14.529 evangelischen Glaubens. Während 1945 in Nordkirchen nur ca. 14 Protestanten lebten, die nach Lüdinghausen zum Kirchenbesuch fuhren, waren es 1958 bereits fast 500. Da es bei uns vorerst keinen evangelischen Pfarrer geschweige denn ein Gotteshaus gab, besuchte uns Pfarrer Barten aus Lüdinghausen und richtete eine Predigtstelle ein. Zuerst fanden die evangelischen Gottesdienste in Schulgebäuden, im Saal des Plettenberger Hof und später im Jupitersaal des Schlosses statt. Schon Pfarrer Dr. Kuhl hatte in seiner Amtszeit energische Vorarbeit für die Errichtung eines evangelischen Gemeindezentrums geleistet, und ein Kirchenbauverein sollte durch Sammlungen den Plan verwirklichen helfen. Freiwillige Helfer und Helferinnen sammelten auch in Südkirchen und Capelle eifrig und unermüdlich für ihren Kirchenbau. Pfarrer Klie, der sich sofort nach seinem Amtsantritt persönlich für die Verwirklichung des Planes einsetzte, konnte endlich im Mai 1958 seiner Gesamtgemeinde den Beginn der Bauarbeiten verkünden. Es wird immer ein Ruhmesblatt in der Geschichte der Vertriebenengemeinde bleiben, dass sie  in den drei Ortsteilen, insgesamt für die Errichtung ihres Gotteshauses und Pfarrhauses rund 17.000 DM aufgebracht haben. So konnte die neue Kirche mit einem Festgottesdienst am 29.10.1961 eingeweiht werden.

 

Aus dem Ortsteil Capelle ist bekannt, dass es eine Flüchtlingskommission gab, wo die Heimatvertriebenen ihre Sorgen und Nöte melden konnten. Lehrer Johannes Herbsthoff, an dessen Haus ein Schild angebracht war (Flüchtlingsmeldestelle), übernahm den Vorsitz. Er konnte vielen Vertriebenenfamilien mit Lebensmitteln, Kleidung, Schuhen und so manchen brauchbaren Dingen, die man zum Leben benötigte, erfolgreich helfen.

 

Langsam, ganz langsam ging es für die Vertriebenen in unserer Gemeinde bergauf. Noch viele Jahre nach ihrer Ankunft lebten die Ostvertriebenen in zu kleinen und primitivsten Wohnverhältnissen. So entstanden für junge Menschen und deren Familien zum Beispiel von 1953 – 1956 die Ostlandstrasse am Ortsrand von Capelle. Jedes Haus bestand aus einer Siedlerwohnung mit knapp 60 qm und einer zweiten Wohnung in der 1. Etage mit etwa 45 qm Größe. Eines dieser Häuser haben meine Eltern im Jahre 1955 von der  Kreissiedlungsgesellschaft (KSG) erworben und lebten dort erst mit ihren vier Kindern im Erdgeschoss. Die Eltern meines Vaters und seine drei Brüder lebten einige Jahre in der Dachgeschosswohnung auf sehr engem Raum. In der Nähe vom Bahnhof an der Uhlandstrasse und in der Holtkampstrasse in Nordkirchen wurden ähnliche Eigenheime errichtet. Aber auch  Siedlerbauernhöfe entstanden in der Bauernschaft Piekenbrock.

 

Prof. Maximilian Schlegel gründete in Capelle 1955 den Ortsverein B.d.V., Bund der Vertriebenen. Man hatte das Bedürfnis, gemeinsam was zu unternehmen, sich gegenseitig zu helfen und vor allem ein kleines Stück Heimat zu erhalten. Es wurden jährlich 4 – 5 Veranstaltungen durchgeführt. Auf dem Programm standen Pflege alter Sitten und Gebräuche, geselliges Beisammensein, folkloristische Abende, Adventsfeiern, aber auch Vorträge aus verschiedenen Themenbereichen und  Ausflüge zu den Sehenswürdigkeiten in Westfalen. Im Jahre 1987 löste sich der Verein auf, deren letzter Vorsitzender Ernst Hartwig war.

 

Vertriebene und Flüchtlinge haben sich immer wieder in das öffentliche Leben unserer Gemeinde eingebracht. Ich erinnere an Dr. Kuhl, Pfarrer Ev. Pfarrbezirk Amt Nordkirchen 1947 –1957, an den katholischen Pfarrer Kurt Sieronski aus Oberschlesien an der St. Dionysius von Capelle 1960 – 1976, Lehrer Alfons Hundeck aus Oberschlesien Lehrer, Ortsvorsitzender BdV, Organist u. Ehrenchorleiter MGV Cäcilia Capelle 1951–1973. Aber auch in den Gemeinderäten von Capelle, Südkirchen oder Nordkirchen und später haben sich ab Anfang der 60-ziger Jahre Helmut Bednar, Johannes Hildebrandt, Paul Hanke sowie Wolfgang Alder, Waldemar Drescher oder Gustav Köhler und Emil Butenhoff  für das gemeine Wohl der Dörfer und deren Menschen eingesetzt und verdient gemacht.

So halfen auch viele Vertriebene beim Bau der evangelischen Kreuzkirche (1960–1961) oder der Leichenhalle auf dem Capeller Friedhof (1964), sie waren immer zur Stelle, wenn man sie brauchte.

 

Leider erinnert in unserer Gemeinde im Ortsteil Südkirchen nur ein Straßenname noch an die alte Heimat. Bei der Namensgebung haben die Gemeindeväter von damals an den bedeutenden deutschen Dichter, dem aus Schlesien stammenden Joseph  Freiherr von Eichendorff erinnert.

 

Vertriebene und Flüchtlinge – alle haben mit Fleiß, Geschick und Gemeinsinn dazu beigetragen, dass es mit unserem Land wieder bergauf ging. Wie Kardinal Meissner einmal sagte: ,,Und sie  blieben nicht an den Wassern zu Babylon sitzen und weinten, sondern sie nahmen Schüppe und Kelle in die Hand und begannen von vorn.“ Die Vertriebenen und Flüchtlinge haben sich auch sonst in ihrer neuen Heimat oder – wenigstens war es ein neues Zuhause geworden – mit Leib und Seele eingebracht. Viele von ihnen übernahmen Ehrenämter, sei es im Vertriebenenbereich, im kirchlichen, sozialen, schulischen oder politischen Bereich. Die Umstellung auf neue Berufe fiel einigen, die in ihren alten Berufen nicht weiterarbeiten konnten und neu orientierten mussten, oft sehr schwer. Besonders betroffen waren hier die Älteren, da sie sich gegenüber den Jüngeren nicht so schnell in einen neuen Beruf einarbeiten konnten.

 

Diese Menschen, die nach 1945  in unsere Gemeinde Nordkirchen gekommen sind, hatten kein Vermögen, doch sie hatten Kenntnisse, sie hatten Ehrgeiz, wollten es wieder zu etwas bringen, einfach von neuem anfangen und vor allem wieder in Würde leben. Und sie packten mit an, ohne Fragen zu stellen. Das Wirtschaftswunder war für die Familien kein Wunder, sondern harte Arbeit und Verzicht auf so vieles. Ohne die Vertriebenen und Flüchtlinge von einst wäre es wohl kaum so glanzvoll ausgefallen. Dass es nach dem Krieg gelungen ist, Millionen heimatloser Menschen wieder ein Dach über den Köpfen zu geben, sie in Wirtschaft und Gesellschaft einzugliedern, ohne Streiks und ohne Krieg - das ist das eigentliche Nachkriegswunder.

 

Wir denken an alle Menschen von Flucht und Vertreibung, auch an die, die nicht mehr unter uns sind.