Flucht
und Vertreibung (Teil I)
Der Leidensweg
der deutschen Bevölkerung
von
Ludger Hanke
Heute sechzig Jahre
danach, nachdem die ersten Vertriebenen sich in unserer Gemeinde eingefunden
haben, ist es Zeit, das schwierige Thema der Flucht und Vertreibung einmal
näher darzustellen. Denn wer aus der Heimat flüchtete, aus seinem angestammten
Lebensumfeld vertrieben wurde, der hat traumatische Ereignisse in seinem Leben
erlebt. Am Ende des zweiten Weltkrieges, der gezeigt hat, wozu Menschen fähig
sind, eines Krieges der von deutschem Boden ausgegangen ist, den Deutsche
aggressiv geführt haben, sind am Ende dieses Krieges Frauen, Kinder und alte
Menschen aus den deutschen Ostgebieten millionenfach zu Opfern geworden. Wenn
wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Opfer des 20. Jahrhunderts gedenken,
dann sollten wir uns aller Opfer erinnern, der von Krieg und Holocaust, aber
bitte auch von Flucht und Vertreibung. Denn fast 17 Millionen Menschen verloren
ihre Heimat aus den östlich der Oder und Neiße gelegenen Ländern des ehemaligen
Deutschen Reiches und die Angehörigen der deutschen Minderheiten in Polen,
Tschechoslowakei, Jugoslawien, Rumänien und Ungarn. Sie wurden evakuiert,
flüchteten vor der Roten Arme oder wurden nach Kriegsende vertrieben. Zwar gibt
es da und dort noch Stimmen, die uns die Trauer um die eigenen Opfer untersagen
wollen;weil Hitler den Krieg
begonnen hat, weil die Deutschen die Täter geworden sind. Es hat aber nichts
mit Aufrechnung zu tun, wenn wir der Toten gedenken, die auf der Flucht über die
Ostsee mit ihren Schiffen untergegangen sind, wenn wir der Menschen gedenken,
die als Zwangsarbeiter nach Sibirien verschleppt worden sind, wenn wir der
Toten gedenken, die während der Vertreibung auf brutale Art umgekommen sind.
Man darf einfach die dunklen Schatten der Vergangenheit nicht verdrängen und
vergessen. Schuld darf nicht aufgerechnet, aber sehr wohl ausgesprochen werden.
Wir schulden diese Offenheit nicht nur den nachfolgenden Generationen, nicht
nur den Toten, derer wir gedenken, sondern auch allen Überlebenden.
Dieses möchte ich mit
zwei Berichten in den Geschichtsheften 2006 und 2007 sowie mit der Ausstellung
- Flucht und Vertreibung - vom 23. April bis zum 14. Mai 2006 im
Heimathaus in Capelle einmal darstellen. Angesichts
der Tatsache, dass in einigen Jahren auch diese Stimmen für immer verstummt
sein werden und wir keine Antwort auf unsere Fragen bekommen, ist es unsere
Aufgabe, sie umfassend zu sichern. Hiermit soll an die Menschen erinnert und
gedacht werden, die vom Überlebenskampf und menschlichen Leid, von Hunger,
Krankheit und Tod soviel dramatische Ereignisse miterlebt haben.
Bis zur letzten Minute
mussten sie ausharren im Zeichen von Hitlers Durchhaltewahn. Während die Rote
Armee am 12. Januar 1945 die Ostfront in wenigen Tagen durchbrach und auf
deutschem Boden kämpfte. Hunderttausende begaben sich, vor allem Frauen, Kinder
und Alte, überstürzt auf die Flucht um ihr Leben zu retten. Zu Fuß oder mit
Pferdewagen mit der notwendigsten Habe, riskierten sie bei klirrender Kälte von
- 20° Grad und mehr, den Weg über vereiste Landstrassen, schutzlos den
sowjetischen Angreifern ausgeliefert. Die Frische Nehrung war für viele
Flüchtlinge zur letzten Hoffnung geworden. Wochenlang waren sie mit ihren
Pferdewagen, ihren Handkarren und Schlitten umhergezogen, bei schneidender
Kälte, ohne Ordnung, ohne Ziel waren sie auf sich allein gestellt. So kam noch
dazu, dass die sowjetischen Panzer bei Elbing zur
Ostseeküste vorstießen und die Landverbindung zwischen Ostpreußen und dem
Reichsgebiet im Westen abgeschnitten wurde mit der Folge, dass über zweieinhalb Millionen Menschen in der Falle saßen.
Der einzige Weg jetzt in
die Hafenstädte Danzig oder Pillau führte nur noch
übers Eis des Haffs. Es war für viele ein Wettlauf mit dem Tod. An manchen Stellen
war die Eisfläche nur
wenige Zentimeter dick.
Holzpfähle oder kleine Tannenbäume, die ins Eis gesteckt worden waren, sollten
den Weg für die Flüchtlinge markieren. Wo Sprengbomben Löcher in das Eis
gerissen hatten, bildete sich schnell eine tückische dünne Eisschicht, die aber
kein Gewicht tragen konnte. Immer brachen Wagen ein und zogen Mensch und Tier
mit in die Tiefe. Manche Menschen trieben auf Eisschollen, die sich gelöst
hatten und fanden keinen Anschluss zum Treck und kamen um. Tag für Tag, von
Januar bis März 1945, spielten sich auf dem Eis dramatische Szenen ab. Flucht
war nur noch mit dem Schiff über die Ostsee möglich.
Am 30. Januar 1945 legte
der Flüchtlingsdampfer Wilhelm Gustloff in Gdingen
mit schätzungsweise 10.300 statt der zugelassenen 2.000 Menschen an Bord ab.
Die genaue Anzahl der Passagiere und Besatzungsmitglieder ließ sich nie mit
letzter Sicherheit feststellen, da auch ihre Flucht überhastet erfolgte.
Insgesamt dürften etwa 8.800 Zivilisten, l.500 Wehrmachtsangehörige und Soldaten
eines U-Bootes sowie Marinehelferinnen und zahlreiche Verwundete an Bord
gewesen sein. Von drei sowjetischen Torpedos getroffen, sinkt das Schiff in nur
50 Minuten in Höhe von Stolpmünde. Knapp über 1.000
Flüchtlinge überleben, die Hälfte der 9.300 Toten waren Kinder. Es war wohl die
größte Katastrophe in der Geschichte der Seefahrt. Man vermutet, dass in der
Ostsee über 33.400 Menschen bei Schiffsuntergängen ihren Tod fanden.
Eine andere von vielen
Tragödien vollzog sich auch in der schlesischen Hauptstadt Breslau wo man auch
hier die Bevölkerung nicht rechtzeitig evakuierte. Der Vormarsch der Roten
Armee auf Berlin sollte hier aufgehalten und verzögert werden. Es war das
Todesurteil für die Stadt. Und wieder traf die überstürzte Flucht die Frauen und
Kinder. Sie zogen bei eisiger Kälte und Schneesturm zu Fuß nach Westen. Über
18.000 Menschen starben dabei vor allem Kinder.
Und immer wieder die
langen Trecks zu Fuß und mit Handkarren, auf Pferdeschlitten oder Pferdewagen,
sie zogen Leiterwagen, Kinderwagen, Schiebkarren, Kindersportwagen. So
flüchteten die vielen Menschen vor der immer näher rückenden Front im Osten.
Vorliegende Evakuierungspläne wurden
auf Befehl der örtlichen
Gauleiter vielfach zu spät oder gar nicht umgesetzt. Die Flüchtenden gerieten
oft zwischen die Fronten und Kampfhandlungen. Vielfach überrollte die rasch
vorrückende Rote Armee die Trecks. Tausende Flüchtende starben an Kälte und
Hunger oder wurden von sowjetischen Truppen misshandelt, vergewaltigt oder
ermordet.
Wochenlang war man auf
der Landstrasse. Von morgens bis abends, nachts schliefen sie entweder im Wald,
in schmutzigen Scheunen und leeren Wohnungen und Stallgebäuden. 1,6 Millionen
der 4,7 Millionen Schlesier waren in das Sudetenland nach Böhmen und Mähren und
in die Tschechoslowakei geflohen, das noch fest in deutscher Hand war. Hier
mussten sie beim Einmarsch der Russen im Mai 1945 nicht nur deren Gewalttaten,
sondern auch die Rache der Tschechen an den Deutschen erleben. Zwar richtete
sich die Wut der Tschechen in erster Linie gegen die Sudetendeutschen; aber
auch die Flüchtlinge aus Schlesien, die sich im Mai und Juni im Gebiet der
Tschechoslowakei befanden, sahen sich durch die Vertreibungsmaßnahmen gegen die
Deutschen mitunter einer geradezu sadistischen Behandlung ausgesetzt, die in
mancher Hinsicht schlimmer war als die Gewalttaten der sowjetischen Truppen,
vor denen sie geflohen waren. Mit schonungsloser Willkür und kalter Brutalität
wurden die Deutschen verfolgt. Plünderungen und Brandschatzungen waren an der Tagesordnung.
Grausamkeit und Rohheit führten zu grauenhaften Misshandlungen und
Verstümmelungen. Die Deutschen wurden mit allen Mitteln verfolgt, gequält,
gepeinigt, ermordet und Frauen und Mädchen vergewaltigt. Das dauernde
Durchziehen der Banden durch die Häuser bei Tag und bei Nacht zerrte an den
Nerven, alle Deutschen waren verzweifelt und ratlos. Alle Deutschen mussten
weiße Armbinden mit dem Buchstaben -N- für Nemec,
(=Deutsch) tragen. Die Binde kennzeichnete, wer öffentliche Verkehrsmittel
nicht benutzen durfte oder die Sperrstunde einzuhalten hatte. Die Ausgrenzung,
die wenige Jahre zuvor den Juden widerfahren war, fiel auf die Deutschen
zurück. Welchen Hass die ehemaligen Besatzer auf sich zogen, zeigte sich in Aussig. Als dort am 31 Juli 1945 ein Munitionslager
explodierte, vermutete man einen deutschen Sabotageakt. Eine halbe Stunde
später griffen eine aufgebrachte Menge Deutsche an, die über eine Brücke von
der Arbeit heimkehren wollten. Über 200 Menschen verloren ihr Leben.
So gibt es auch zu berichten,
dass zwischen Oppeln und Neisse in Oberschlesien ein
Lager bestand, in das aus den umliegenden Orten die Menschen verschleppt
wurden. Man nannte es die Hölle von Lamsdorf. An
den Folgen starben ca. 6.488 Männer, Frauen und immer wieder unschuldige Kinder
und Säuglinge.
Auch Dresden nahm viele
Flüchtlinge auf, vor allem aus Schlesien. In der Nacht zum 14. Februar
verwandelte sich die Stätte der Zuflucht in ein Flammenmeer. Am
Faschingsdienstag suchten sich die Dresdener ein wenig Zerstreuung von der Last
des Kriegsalltags, als plötzlich Sirenen ertönten: Fliegeralarm. Dresden hieß
wie Breslau im Volksmund Reichsluftschutzkeller. Eigentlich war die sächsische
Metropole aus militärischer Sicht bedeutungslos und man hoffte, dass auch die
Alliierten die architektonische Kostbarkeit ihres Elbflorenz
schätzten und verschonen würden. Aber das war nicht so. Und dann brach das
Inferno der 244 britischen Lancaster-Bomber, die
2.000 Tonnen Bomben in der Nacht auf die Stadt abwarfen, los. Die ersten
todbringenden Zwei-Tonnen-Bomben detonierten in dem ganzen Stadtgebiet.
Brandbomben entfachten in Minuten riesige Feuersbrünste. Der Asphalt brannte.
In den Kellern erstrickten und verbrannten Menschen. Der Feuersturm war noch in
350 Kilometern Entfernung zu sehen. Gegen acht Uhr morgens starteten nochmals
450 Bomber der US Air Force und warfen weitere 700 Tonnen Bomben auf Dresden
ab. Eine militärische Rechtfertigung für diese sinnlose Tötung der über
geschätzten 38.000 Menschen gab es nicht.
Unerwähnt darf auch
nicht bleiben das Schicksal der 530.000 Deutschen, die in jenen Tagen zur
Zwangsarbeit in das Innere der Sowjetunion verschleppt wurden. Sie wurden in
den letzten und ersten Friedenswochen von Sonderkommandos des sowjetischen
Geheimdienstes gefangen genommen und deportiert. Andere Quellen sprechen von
mehr als einer Million zur
Zwangsarbeit in das
Innere der Sowjetunion verschleppten deutschen Zivilisten. Ohne Erklärung, oft
völlig willkürlich wurden sie abtransportiert. Mitunter wurden alle verfügbaren
Deutschen zwischen 13 und 65 Jahren, in Einzelfällen sogar kleine Kinder
deportiert. Jahrelang fehlte jedes Lebenszeichen von ihnen. Während
Kriegsgefangene schon in den ersten Jahren an ihre Angehörigen schreiben
durften, war es den Zivilisten lange verboten. Von besonderer Tragik war das
Schicksal jener Kinder, deren Mütter verschleppt wurden, verhungerten, an
Krankheiten oder als Folge von Vergewaltigungen starben. So schlugen sich tausende ostpreußische Kinder nach Litauen durch, um dort
als kleine Landstreicher ums Überleben zu kämpfen. Viele von ihnen suchen bis
heute nach ihren Verwandten, um endlich eine Antwort auf ihre bohrende Frage zu
bekommen: wo komme ich her, wer bin ich? Sie sind die verlorenen Kinder des 20.
Jahrhunderts.
Alle deutschen
Flüchtlinge, die in den ersten Monaten des Jahres 1945 ihre Heimat in
Ostdeutschland verließen, hatten die Vorstellung, dass sie bald wieder, wenn
alles vorbei sei, in ihre Wohnorte, in ihre Wohnungen, Häuser und auf ihre Höfe
zurückkehren könnten. Viele Trecks sind allein aus dem Grund nicht weit genug
nach Westen geflohen, weil sie doch sehr hofften, auf diese Weise schneller und
einfacher zurückkehren zu können. Als der Krieg im Mai beendet und ganz
Deutschland in der Gewalt der Sieger war, setzte eine Rückkehrbewegung der
Ostdeutschen in ihre Heimatgebiete ein. Es war eine Rückkehr von geschlagenen,
geschändeten und ausgeraubten Menschen, die müde und verzweifelt, sich zuletzt
nur in ihrer heimatlichen Umgebung einen Trost versprachen und oft genug auch
darin enttäuscht wurden, weil sie kein Zuhause, sondern zerstörte und
abgebrannte Häuser inmitten verlassener Dörfer vorfanden.
Die Situation für die
Deutschen wurde immer unerträglicher. An den östlich der Neiße gelegenen Orten
begann die polnische Miliz bereits im Frühjahr 1945 mit der Vertreibung der
Bevölkerung.
Die Phase der
Entrechtung und Enteignung wurde ebenfalls begleitet von brutalen Übergriffen
und Ausschreitungen, in denen sich der gegen die vorangegangene deutsche
Gewaltherrschaft aufgestaute Hass entlud. In Großgiesmannsdorf,
Lindewiese, Ludwigsdorf oder Weitzenberg, und wie
auch in vielen anderen Orten, ließ man den Deutschen nur wenig Zeit zum
zusammenpacken. Sie wurden auf das Gelände der Feuerwehrschule oder in die
Kasematten in Neisse unter katastrophalen
hygienischen Bedingungen zusammengetrieben. Sie durften sich nicht hinsetzen,
durften sich nicht ausruhen, keinen Schluck Wasser trinken, obwohl sie einen
fürchterlichen Durst hatten. Hier hat eine Mutter nach ihrem Kind geschrieen,
dort haben Kindern nach der Mutter geschrieen. Es war einfach alles sehr
furchtbar. Zu den Strapazen des tagelangen Ausharren in den Lagern, des
allgegenwärtigen Nahrungsmangels und der wüsten Beschimpfungen und Schläge
durch die Polen, kamen Typhus, Gesichtsrose und Ruhr sowie Wanzen und Läuse
hinzu und taten ein Übriges, die völlig ausgemergelten Körper zu schwächen. Die
Menschen mussten ausharren, bevor sie in Güterwaggons
wie Vieh zu vierzig bis fünfzig Personen nach Westen vertrieben wurden. Immer
wieder hielten die Züge, die selten mit weniger als l .200 Menschen besetzt
waren für einige Stunden oder auch mal einen ganzen Tag an, man durfte die
Waggons nicht verlassen, sie wurden streng von den Polen bewacht. Die
Westverschiebung Polens, die auf der Potsdamer Konferenz der Siegermächte
Großbritannien, USA und der Sowjetunion im Juli 1945 beschlossen wurde, ist nun
im vollen Gange. Es sollte möglichst kein Deutscher in Pommern, Schlesien, den
Masuren und Ostpreußen bleiben. Die Siegermächte waren jetzt die neuen Eigentümer.
Manche Güterzüge waren bis zu einem Monat unterwegs, bis sie bei uns im
Münsterland ankamen.
Quellen:
„Aufbau West“,
Dr. D. Kift
„Die große Flut“,
G. Knopp
„Nicht Rasse,
nicht Vergeltung“, E. Kuhn