Stronzian

Die Geschichte eines Nordkirchener Pferdes und seines Herrn

Vor dem südlichen Zingelgraben des Schlosses Nordkirchen, rechts des Weges die nach Capelle führt, stand vor über 100 Jahren ein graues Fachwerkhäuschen. Im Volksmunde hieß es das "Waschhaus", obwohl es mit der Wäscherei schon lange nichts zu tun hatte. Jahrelang hindurch flatterte auf dem Dach dieses Gebäude eine blaugelbe Fahne, die Flagge des damaligen Besitzers der Herrschaft Nordkirchen, des ungarischen Grafen Nikolaus Esterhazy. Das Schloss war nie, auch nicht, wenn es den sehr seltenen Besuch seines Besitzers hatte, beflaggt. Nur an Fronleichnam wurde die Fahne aufgezogen, an dem nach alter Sitte die Prozession von St. Mauritius her um das Schloss zog und in der Schlosskapelle der Segen gespendet wurde.

Es muss schon ein wichtiger Grund gewesen sein, warum der Graf statt auf dem Dach des großen Schlosses seine alte blaugelbe Familienflagge auf dieses kleine Haus setzen ließ. Dieses kleine Häuschen hat ihm wohl mehr bedeutet als das stolze Schloss, an dem er nie richtig gehangen hat. Hier in diesem unscheinbaren Gebäude hatte er seine großen Hoffnungen erfüllt gesehen und es verhalf ihm zu dem höchsten Triumphe seines kurzen, unruhigen Lebens auf einem Gebiet, wo man ihn "groß" nennen könnte, nämlich dem Gebiet des Pferdesports. Auch für Nordkirchen und dem alten Kreis Lüdinghausen haben die blaugelbe Flagge auf dem Waschhaus und der Graf Nikolaus Esterhazy einst etwas bedeutet, was heute aber schon lange der Geschichte angehört.

Schon um 1870 ließ Graf Nikolaus edle und wertvolle Pferde vom Rhein nach Nordkirchen kommen, wertvolle englische Vollblüter. Eines dieser Pferde war die Stammmutter des berühmten „Stronzians", jenes "Vollbluthengstes", der im Jahre 1882 in dem eben erwähnten "Waschhaus" zur Welt kam und dessen Name für eine kurze Zeit wie ein Komet auf die Sportbahn leuchtete und der blaugelben Schärpe des Stalles Esterhazy ungeahnte Triumphe auf den großen Rennbahnen verschaffte.

Graf "Niki", so wurde er in Sportskreisen meistens genannt, hatte das Schloss von seiner Mutter, der Gräfin Maria von Plettenberg, geerbt. 1866 kam er zum ersten Male nach Nordkirchen und begann mit dem großzügigen Aufbau seiner Vollblutpferdezucht. In den folgenden Jahren begann er rings um das Schloss Pferdeweiden und Wiesen anzulegen. Bis dahin stießen die Ackerfelder und Gärten bis an die Schlossgräben. Die noch heute existierende große Pferdewiese, die ehemalige "Rennbahn" südlich des Schlosses, stammt aus der damaligen vorgenommenen landschaftlichen Veränderung und war zu der Zeit Ackergelände. Bald umgab ein grüner Kranz von Wiesen und Weiden das Schloss. Durch einzelne Baumgruppen wurde die Eintönigkeit unterbrochen und so eine typische Münsterländer Landschaft geschaffen.

Im Jahre 1882 wurde im "Waschhaus" Stronzian geboren. Er war ein Prachtkerl, ein hochbeiniger Fuchshengst, der seinem reinen Stammbaum alle Ehre machte. Der Graf als einer der wenigen Pferdekenner war von dem Fohlen entzückt und gab ihm den Namen "Stronzian". Der Name erinnerte an den Traum vom Glück, der damals im Kreise Lüdinghausen mit dem Auffinden des Stronzianits verbunden war. Im "Waschhaus" blieb Stronzian aber nicht lange. Um 1870 wurden die Ställe im Schloss zu klein und der ehemalige Pachthof Rensmann an der Straße nach Capelle, ca. 1 km vom Schloss entfernt, wurde zum Gestüt eingerichtet. Dort im "Ersten westfälischem Vollblutgestüt" verbrachte er seine stürmischen Kindheitstage im Kreise von bis zu fünfzig Fohlen. Graf Nikolaus konnte stundenlang den Fohlen zusehen, beobachten und studieren. Ein Fohlen, der Fuchs mit den weißen Fesseln und dem weißen Stern vor der Stirn, fiel damals schon allen auf. Es war der junge Stronzian. Der Graf nahm ihn oft selber an die Longe und ließ ihn im Kreise laufen. Er hatte an dem prächtigen Tier, das an Schnelligkeit und Ausdauer all seine Kameraden weit übertraf, eine große Freude und sprach oft davon.

Nur zwei kurze Sommer währten die schönen Nordkirchener Tage für die Fohlen. Dann traten sie die lange Reise, die von Drensteinfurt über Hamm - Dresden - Wien nach Tata Tavaros bei Komora in Ungarn führte. Dort liegt das Kastell Esterhazy, eine mittelalterliche Burganlage auf römischen Grundfesten. Weit über 100 Pferde waren auf dem prachtvoll ausgestattetem Gestüt des Grafen zu Hause. Hier wurden sie von einigen der besten Trainern Europas auf Schnelligkeit und Ausdauer trainiert.

Seinen ersten großen internationalen Auftritt hatte Stronzian in Wien. Ende Mai 1884 fand, wie in jedem Jahr, das große Derby der Besten der jugendlichen Vollblutzucht Mitteleuropas statt. Graf Nikolaus war sehr zuversichtlich und hoffte auf den Sieg von Stronzian. Bis kurz vor Schluss des Rennens sah alles nach einem Sieg seines jungen Fuchses aus. Erst auf den letzten Metern wurde er von "Mineta" mit einer Länge Vorsprung geschlagen.

Graf "Niki" war natürlich sehr enttäuscht über den Ausgang des Rennens. Er hatte nicht nur den sicher gehofften Sieg verloren, sondern auch seine gewagten Einsätze beim Totalisator. Wie hoch diese Verluste waren, hat nie jemand erfahren, aber man kann davon ausgehen, dass sie in die Hunderttausende ging.

Der Graf ließ sich aber nicht durch die Niederlage in Wien entmutigen. Er war davon überzeugt, dass er in Stronzian das beste Pferd des Kontinents sein eigen nennen konnte. Seine großen Wettverluste hoffte er an anderer Stelle wieder hereinzubringen. Vier Wochen nach dem ersten Auftritt in Wien meldete der Graf seinen Stronzian für das große deutsche Derby in Hamburg an.

Auf dem zu dieser Zeit bekanntesten und wichtigsten Rennen auf Deutschem Boden, dem Hamburger Derby, setzte der Graf nun seine ganze Hoffnung. Es musste ihm den Sieg bringen, oder es würde das Ende des Pferdesports für ihn bedeuten. Graf Nikolaus reiste selber nicht nach Hamburg, sondern blieb auf seinem Schloss in Nordkirchen, wohin er sich nach der Niederlage in Wien zurückgezogen hatte. Mit seiner Vertretung betreute er seinen Sportsfreund, den Grafen Alfred von Fürstenberg aus Herringen, der auch die Rennwetten in Hamburg für ihn abschloss. Wir hoch diesmal gewettet wurde, konnten wohl nur die vertrautesten Freunde des Grafen sagen, doch soviel drang darüber an die Öffentlichkeit, dass mehr als die Herrschaft Nordkirchen, d.h. das ganze Schloss Nordkirchen und alle weiteren Besitztümer rund um Nordkirchen auf dem Spiele gestanden hat.

Es waren qualvolle Stunden des Wartens für den Grafen und seine nähere Umgebung, am Nachmittag jenes denkwürdigen Tages im Monat Juni 1884, an dem das Hamburger Derby stattfand. Das Rennen war gegen 15 Uhr. Es wurde 16 Uhr, es wurde 17 Uhr und immer noch war keine Nachricht über den Ausgang des Rennens in Nordkirchen eingetroffen und Graf Fürstenberg hatte doch versprochen, auf jeden Fall sofort zu telegraphieren. Der Graf ging die ganze Zeit aufgeregt auf der Venus-Insel umher. Sein Kammerdiener Thomas Lowles, der unter dem Namen "Thom" eine fast international zu nennende Popularität erlangt hatte, und der berühmte Wiener Skizzenmaler Ledele, der dem Grafen in die Einsamkeit nach Nordkirchen gefolgt war, hatten sich mit Trompeten ausgerüstet und waren zum Dorf gegangen, wo sie vor dem "Plettenberger Hof" den Telegrammboten erwarteten und dann dem Grafen im Falle des Sieges durch Trompetensignale Nachricht geben wollte. Die Aufregung beim Grafen wuchs ins unerträgliche. Auch den beiden Trompetern vor dem Gasthof am Dorfeingang riss die Geduld; sie eilten zum Postamt. Dort war kurz nach 17 Uhr das Telegramm vom Grafen Fürstenberg eingelaufen: „Stronzian hat leicht gewonnen!"

Gerade war die Postmeisterin dabei, es zu versiegeln, als die beiden Männer aufgeregt am Schalter erschienen und nachfragten. Auf den günstig lautenden Bescheid hin stürzten beide zur Tür hinaus und begannen sofort auf den Trompeten zu blasen, indem sie die Schlossstraße hinauf rannten und den erstaunten Bürgern zuriefen „Stronzian hat gesiegt!" Wie ein Lauffeuer flog die Nachricht von Mund zu Mund durchs Dorf. Als der Graf die Trompetensignale hörte, kannte seine Freude keine Grenzen. Er lief auf der Venus-Insel bis zur Treppe am großen Teich und wartete voller brennender Ungeduld auf die herankommenden Bläser, die schon ganz außer Atem waren. Als der beliebte "Thom" den Grafen auf der anderen Seite des Teiches sah, konnte er völlig außer Atem und mit letzter Kraft rufen "Stronzian leicht gewonnen". Da fiel dem Grafen ein Stein vom Herzen und er eilte erleichtert ins Schloss. Als der Graf im Schloss das Telegramm gelesen hatte, sagte er zu Thom: "Nun soll sich ganz Nordkirchen mit uns freuen. Thom sorge dafür, dass der Tag Stronzians entsprechend gefeiert wird." Und Thom verstand seine Sache. Er schickte Boten ins Dorf und lud alle Schlossbeamten mit ihren Frauen für den Abend zur Tafel ein. Ein damalig 6 Jahre alter Junge berichtete später über diesen Tag und konnte sich noch an einige Gegebenheiten von diesem denkwürdigen Tag erinnern. Zwei Stallburschen vom Schloss kamen über den niedrigen Zaun an unserem Hause gesprungen und gingen zu meinem Vater. Jeder hatte eine Flasche Ungarnwein und eine Flasche Sekt in der Hand. Im Haus wurde auf Stronzians Sieg angestoßen. Man gab auch mir einen Schluck Sekt "zum kosten". Das Zeug stieg mir in die Nase und reizte mich zum Husten. Ich hatte den ersten Schluck als "sehr gute aber schmerzhafte Sache" im Gedächtnis behalten."

Die Feier dauerte bis zum nächsten Morgen und nach Aussage der Gäste muss sie sehr lustig gewesen sein. Für alle herrschaftlichen Arbeiter, ja für ganz Nordkirchen war der nächste Tag ein Feiertag. Nur die Kinder mussten zur Schule. Der 6 Jahre alte Junge berichtete: Als ich von der Schule kam und durch "Degelmanns Gässchen" ging, sah ich zwei Männer aus dem Dorf, die torkelnd mir entgegenkamen und immer wieder sangen: AHoch Stronzian". In allen Gasthäusern war großer Lärm. Es gab "Freibier für alle" und Butterbrote und Schinken, "damit sie das Trinken besser vertragen konnten!", wie sich der Graf ausdrückte. In alten Aufzeichnungen ist nachzulesen, dass der Sieg Stronzians zu einer "Massenalkoholvergiftung" von halb Nordkirchen führte und Schädelbrummen und Katzenjammer zur Folge hatte.

Aber auch noch auf andere Weise sollte der Name Stronzian den Nordkirchenern in Erinnerung bleiben. Der Graf ließ den Sieger Stronzian in Öl malen und das Bild über den Eingang des ersten Gasthofes von Nordkirchen, des altberühmten "Plettenberger Hofes" anbringen. Der Gasthof wurde umgetauft und "Zum Stronzian" genannt. Doch stieß die neue Benennung auf den Widerstand des Wirtes und die Gaststätte erhielt bald wieder ihren alten Namen. Nachdem der Graf Nordkirchen verlassen hatte, verschwand das Bild und hing dann viele Jahre in der Gartenhalle des alten "Plettenberger Hofes". Leider ist das schöne Bild an einen auswärtigen Interessenten verkauft worden. Es ist bedauerlich, dass ein Stück Nordkirchener Geschichte somit verloren gegangen ist, statt das Rathaus oder ein (zukünftiges) Heimatmuseum zu bereichern.

Bald nach dem Rennen kam Stronzian nach Nordkirchen und konnte von allen Bewohnern bewundert werden. Von Nordkirchen wurde Stronzian nach Baden-Baden geschickt, wo auch heute noch große Sommerrennen stattfinden. Bei der Vorbereitung zu diesen Rennen zog Stronzian sich - wohl in Folge von Überanstrengung - eine Sehnenzerrung zu, die ihn für die Sportbahn dauernd untauglich machte. Graf Nikolaus war untröstlich, weil er sich so viel von diesem Pferd erhofft hatte. Aber es war nicht zu ändern. Stronzian kam Ende Juli wieder nach Nordkirchen zurück und stand lange an der Stätte, wo er geboren war.

Später wurde er als Deckhengst zur Zucht verwendet. Die Fohlen waren ganz der Vater. Edel und stolz führten seine Söhne und Töchter den reinen Stammbaum weiter und sorgten für seinen Ruhm über die Grenzen Deutschlands hinaus. Sein Wert wurde immer höher. Endlich verkaufte Graf "Niki" ihn für 125.000 Mark an den "Deutschen- und Österreichischen Rennpferde-Sportclub", der ihn nach Napajedl in der früheren Tschechoslowakei brachte. In dem dortigen berühmten Gestüt des Grafen Baltazzi wurde Stronzian noch lange Jahre als Deckhengst verwendet.

Es mag ein schöner Traum des Grafen Nikolaus gewesen sein, Nordkirchen zum Zentrum der deutschen Rennpferdezucht zu machen, wie es ihm mit seiner Vaterstadt Totis für die ungarische tatsächlich gelungen ist. Aber die Bodenverhältnisse waren dort um einiges besser als in Nordkirchen. Das Westfälische Vollblutgestüt von Graf Nikolaus besteht schon lange nicht mehr. In den 1880er Jahren wanderten viele Pferde von Westfalen nach Ungarn und von dort zurück. Aber auch viele Menschen aus Nordkirchen fanden für einige Jahre in Ungarn ein neues zu Hause. Aus Ungarn kamen Künstler, Gärtner und andere Handwerker nach Nordkirchen und gaben ihre Erfahrung an die heimischen Handwerker weiter.

In Nordkirchen sprach man noch lange von vom Grafen Nikolaus, zu dessen Zeiten das Dorf "goldene Zeiten" hatte. Er war Leben und Treiben im Orte und es herrschte ein Wohlstand wie in den Tagen des Fürstbischofs Friedrich Christian von Plattenberg zu Anfang des 18. Jahrhunderts. Die Geschäftsleute und Handwerker hatten Arbeit und guten Verdienst; Arbeitslosigkeit kannte man nicht, auch im Winter hatte jeder Arbeitswillige sein sicheres Brot. Der Graf achtete darauf, dass die Bedürfnisse für sein Schloss im Orte gekauft und auch hergestellt wurden. Es lag ihm viel daran, die Nordkirchener Handwerker, waren es Wagenbauer, Schlosser, Schreiner, Maler, Sattler, Schneider oder Schuhmacher, zu bilden und zu schulen. Nicht nur, dass er für seine Dienstleute alles in Nordkirchen anfertigen ließ, er selbst trug mit Stolz Kleider und Schuhe, die in Nordkirchen hergestellt worden waren und veranlasste auch seine Gäste, in Nordkirchen arbeiten zu lassen. So entstand dank seiner Hilfe in Nordkirchen ein Stamm vorzüglicher Handwerker, denen er auch mit Rat und Tat zur Seite stand. Darin lag hauptsächlich seine soziale Bedeutung und sein größter Verdienst um Nordkirchen, wenn auch vielmehr bei seinem Namen an den Pferdesport, Pferdezucht und Rennwesen gedacht wird.

Von den zahlreichen Vollblutpferden, die im Gestüt zu Nordkirchen aufgezogen wurden, hat auch noch manch anderes schöne und große Erfolge auf der Rennbahn erzielt, keines aber hat an Stronzian herangereicht. Nordkirchen hat die meist fremd klingenden Namen der Pferde schon längst vergessen. Einen Namen kennen aber noch viele alte und vielleicht auch jetzt jüngere Nordkirchener und werden ihn wohl auch nicht vergessen: Stronzian.

Hubert Kersting