Aus "Heimatblätter", Beilage zum Westfälischen Anzeiger, von Montag, 06.08,2001

Als es noch Streckbutter und Muckefuck gab

Erinnerungen an die Lebensmittelrationierung in Kriegs- und Nachkriegszeiten

Unmittelbar nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurden im September 1939 alle Lebensmittel und die meisten Gebrauchsgüter in Deutschland rationiert.Offenbar war diese Maßnahme von langer Hand vorbereitet worden. Schlagartig gab es für jeden Einwohner Lebensmittelkar ten, die an den Ausgabestenen des Wirtschaftsamtes abgeholt werden mussten. Keiner ahnte, dass damit neun Jahre Schlangenstehen begann.

Die Lebensmittelkarten hatten zur besseren Orientierung verschiedene Farben für unterschiedliche Warenarten: rosa für Nährmittel, gelb für Fett und Käse, blau für Fleisch, grün für (entrahmte) Milch, rot für Brot und Backwaren, braun für Tabak. Außerdem hatten die Karten noch eine Güte- (Mengen-)unterteilung. Für Normalverbraucher, Schwerarbeiter und Schwerstarbeiter. Der Verbraucher musste sich als Stammkunde bei einem Händler seiner Wahl eintragen lassen. Demgemäß bekamen die Händler ihre Warenzuteilung. Reisende konnten ihre Lebensmittelkarten beim Wirtschaftsamt in Reisemarken umtauschen.

Zusätzlich gabes noch die Kleiderkarte, Bezugscheine für Arbeitskleidung und Schuhe, aber auch für Wohnungseinrichtungen: Küche, Herd, Bett usw.. Außerdem nach Mengen festgesetzten LebensmitteIkarten-Abschnitten waren noch einige Buchstabenkästchen vorgesehen, mit denen man zu gegebener Zeit nach Abruf Sonderzuteilungen beziehen konnte, so z. B. zu Ostern pro Kopf ein Ei.

Auch für Hausbrennstoff wie etwa Kohlen und Holz gab es Berechtigungsscheine, die man seinen Kohlenhändler aushändigen musste. Ob er aber wirklich Kohlen liefern konnte, war ungewisse. Manchmal gab es Schlammkohle, die zwar viel rußte, aber wenig heizte.

Die NS-Propaganda brachte den Slogan für das Winterhilfswerk (WHW) heraus: "Keiner soll hungern und frieren". Dieser Spruch wurde. aber schon bald von der Bevölkerung umgewandelt in: "Keiner soll hungern ohne zu frieren." Beim Brennholz wurden viele Bürger zum Selbstversorger, die mit einem Bollerwagen in den Wald zogen, um Reisighplz, Tannenzapfen und Äste zu sammeln. Dabei wurden auch Äste von den Bäumen kurzerhand abgesägt, wenn sie in erreichbarer Höhe wuchsen.

Die meisten Verbraucher machten sich eine Mappe für die Lebensmittelkarten in Form einer Brieftasche. Diese Mappe wurde im Laufe der Jahre mehr und mehr zu einem gut behüteten Familienschatz, der die Ernährung für jeweils einen Monat sicherstellte. Nun war es aber nichtso, dass die eingedruckten Lebensmittel auch tatsächlich greifbar waren. Für Milch gab es vielfach Trocken milch, obwohl einem sogenannten Normalverbraucher ein halber Liter entrahmte Frischmilch pro Woche zustand. Anstatt Eier muss te man oft genug mit Trocken-Ei vorlieb nehmnen, und als Ersatz für Kartoffeln gab es Kartoffelpulver. Bei den Nährmitteln musste man das nehmen, war gerade im Laden vorrätig war. Um sich nicht eindeutig auf bestimmte Früchte festzulegen, wurde die vielfach undefinierbare Vierfruchtmarmelade erfun den. Da war der Kunsthonig noch beliebter, sofern er vorrätig war.Und natürlich erhielt man Marmelade wie Kunsthonig nur auf Zuckermarken...

DasStraßenbild in jener Zeit war oft gekennzeichnet von langen Menschenschlangen vor. Metzgerläden, Bäckereien und Lebensmittelgeschäften. Da nichtvorauszusehen war, wie lange derVorrat reichte, stellten sich die Menschen schon morgens um sechs Uhr an und ließen sich von Familienmitgliedern beim stundenlangen Warten ablösen. Manchmal jedoch gab es bei uns auch Leberwurst ohne Fleischmarken. Sie stammte, wie wir erfuhren, aus einer chemischen Fabrik aus Wilshausen bei Oeventrop und wurde angeblich aus Buchensägemehl, Essig und unbekannten chemischen Zusätzen hergestellt.

Wenn ein Händler überraschend eine Lieferung Kartoffeln oder Gemüse bekam, ging die Mundpropaganda in Windeseile durch die Straßen. Vornehmlich wurden dabei Verwandte und Freunde in Kenntnis gesetzt. Jedermann hatte sowieso immer Einkaufstaschen, Beutel, kleine Säckchen oder Schüsseln bei sich, um für Sonderfälle gewappnet zu sein. Tüten oder andere Verpackungen hatten die Händler ohnehin nicht. Sie ver ließen sich darauf, dass ihre Kunden damit ausgerüstet waren.

Auch Waschpulver war viele Kriegs- und Nachkriegsjahre eine Rarität. Zahnpasta gab es nur selten. Ersatz dafür war dann ein Zahnputzstein, an dem die Zahnbürste gerieben wurde. Als Feinseife wurde eine harte Lehrnseife angeboten, die kaum schäumte und mit der Zeit bröckelte. Findige Hausfrauen nähten sich aus Mull kleine Säckchen und sammelten darin die merkwürdigen Seifenkrümel. Auch die Schwirnmseife hatte ihre Tücken. Sie schäumte zwar, verbrauchte sich aber im Handurndrehen. Auf den Seifenstücken stand RIF, die Abkürzung für Reichsindustrie für Feinseife. Im Völksmund wurde RIF übersetzt mit 'Ruhe in Frieden', da den meisten bekannt war, dass die Seife aus Knochen hergestellt wurde.

Die Hausfrauen jener Zeit, die uns unvorstellbar fern erscheint, aber vielen Älteren noch hautnah in Erinnerung geblieben ist, erwiesen sich als Künstler und Zauberer. Manches Kleidungsstück wurde gewendet, oder aus zwei alten Kleidern entstand ein neues. Mit Kerzentalg -und Spucke erstrahlten sogar alte Latschen wie glänzende Schuhe.

Noch bessere Leistungen erbrachten sie mit ihren Kochkünsten: Löwenzahn diente als Salat, Brennesseln verwandelten, sich in Spinat. Aus 125 Gramm Margarine entstanden unter Zugabe von Mehl, Milch und evtl. etwa Kümmel 500 Gramm 'Streckbutter'. Bei diesem Brotbelag gab man sich auch mit aus Korn gebranntem Kaffee, auch Blümchenkaffee oder Muckefuck genannt, zufrieden, denn an Bohhenkaffee war über haupt nicht zu denken.

Um Selbstversorger in Kartoffeln und Gemüse zu werden, entstand aus brachliegenden Flächen überall Gartenland. Selbst in.kleinen Vorgärten und in Balkonkästen wurde Gemüse gezogen. In Hamm zum Beispiel blühten in den Ringanlagen rund um den Bärenbrunnen mitten in der Stadt die Kartoffelfelder.

In den Zeiten der Rationierung entwickelten die Menschen in Deutschland einen kaum glaublichen Erfindungsreichtum, um die Not zu überlisten und aus den wenigen erreichbaren Lebensmit teln und Gütern jeder Art das beste zu machen. Selbst als durch den Bombenkrieg viele Häuser und Wohnungen zerstört oder stark beschädigt wurden und die Ausgebombten in Notquartieren zusammengepfercht leben mussten, setzte sich der Wille zum Überleben immer wieder durch.

Erst die Währungsreform im Juni 1948 beendete die Rationierung von Lebensmitteln und Gebrauchsgütern und löste mehr und mehr durch das sich durchsetzende "Wirtschaftswunder" die Zeit des Hungers und der Not ab.

Norbert Katz